Prof. Dr. Michael Lindenberg

Selbstverständnis im Spiegel der Fachdebatte

 

Der „Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge“ definiert in seinem Fachlexikon Soziale Arbeit folgendermaßen: „Aus der Diskussion um Methoden und ´Qualität´ der sozialen Arbeit setzt sich zunehmend ein Verständnis von Sozialer Arbeit als ´einer lebensweltbezogenen sozialen Dienstleistung´ durch (Thiersch), bei der der Hilfeempfänger in seiner Rolle als so genannter ´Koproduzent´ zu einem wesentlichen Indikator für Erfolg und Qualität des Hilfeprozesses wird. […]. Im Kern ist soziale Arbeit eine Form der direkten oder indirekten personenbezogenen Dienstleistung“ 1 Vergleichbar äußert sich der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH), wenn davon gesprochen wird, dass in der Sozialen Arbeit soweit wie möglich mit anstatt für Menschen gearbeitet wird. Daher zielen die Strategien der Sozialen Arbeit darauf ab, die Hoffnung, das Selbstwertgefühl und das kreative Potential der Menschen zu stärken.2 Burghard Müller3 hat dargelegt, dass die Umsetzung dieser Postulate auf einem gemeinsamen Sockel der „Kasuistik“ ruht. Damit ist eine „multiperspektivische Fallarbeit“ gemeint. Sie nimmt stets den Fall zum Ausgangspunkt des Handelns, ohne sich auf die Betrachtung der Beziehung zwischen Klienten (in diesem Fall: Gefangenen) und der Fachkraft zu beschränken. Stattdessen berücksichtigt sie die komplexen Handlungsbedingungen ebenso wie die spezifischen organisatorischen Rahmungen4. Auf den Strafvollzug bezogen bedeutet ein multiperspektivisches Vorgehen, die leistungs- und verfahrensrechtlichen Aspekte von den Eingriffsrechten zu unterscheiden und diese wiederum von den pädagogischen und gegebenenfalls therapeutischen Interventionen und den damit etwa verbundenen fiskalischen Größen. Erst durch diese Unterscheidung kann dann erkannt werden, wie und ob sie wechselseitig verbunden sind. Dies ist einerseits eine Leistung, die die Fachkraft in der konkreten Situation erbringen muss. Anderseits kann dies in Standards niedergelegt werden, die mit der Beschreibung der Kernprozesse im Sinne einer Arbeitshilfe verbunden werden - ohne die Fachkraft dazu zu nötigen, linear und schematisch vorzugehen.
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession 

 

Staub-Bernasconi5 hat ausgeführt, dass es zur Entstehung einer Menschenrechtskultur gehört, die Sichtweise Sozialer Arbeit zu erweitern, nämlich: nicht nur die Klienten der Sozialen Arbeit zu sehen, sondern auch die Organisationen, die mit diesen Klienten umgehen. Warum? Weil es erforderlich ist, nicht nur das eigene sozialarbeiterische Handeln nach menschenrechtlichen und sozialrechtlichen Gesichtspunkten zu durchleuchten, sondern auch die Organisationen der Fürsorge, der Hilfe, der Stützung und der Überwachung. Dabei geht es auch um „die Umkehrung sozialer Kontrolle nach oben, also auf die offiziellen Machtträger“.6 Daher ist eine Soziale Arbeit, die sich als Menschenrechtsprofession versteht, immer auch daran interessiert, ihrem eigenen Handeln nicht nur unter fachlichen, sondern auch unter politischen Gesichtspunkten kritisch zu begegnen. Dies hält Staub-Bernasconi für erforderlich, um einer bloßen Verfachlichung politischer Angelegenheiten entgegenzuwirken. Eine reine Verfachlichung arbeitet eigentlich politische Bedürfnisse und Fragen in verwaltbare Angelegenheiten und administrative Maßnahmen klein. Doch sind gerade die Fragen des Strafvollzugs per se politische Fragen, weil sie Einblick geben und Indikator sind für die im politischen Diskurs erzeugten allgemeinverbindlichen gesellschaftlichen Standards. Im Strafvollzug spiegelt sich der Zustand der Gesellschaft als Ganzes. Dessen ist sich die Soziale Arbeit sehr bewusst.
Beschränkt sich die Soziale Arbeit dagegen auf eine rein fachliche Sichtweise, so werden aus eigentlich politischen Angelegenheiten juristische, administrative, sozialpädagogische oder therapeutische Fragen. Diese Umkehrung des Blickes Sozialer Arbeit nach Oben, in seine eigenen Organisationen, dient insgesamt der Wahrung der Würde des Menschen, die politisch errungen wurde und zu deren Bewahrung die Soziale Arbeit im Strafvollzug beitragen muss. Sie dient damit auch der eigenen Profilschärfung: „Weil Soziale Arbeit sich nicht darauf verlassen kann, dass ihre professionellen Prinzipien unter dem ‚Ansturm herrenloser Gewalten‘ geschützt bleiben, bedarf es einer Verankerung in begründbaren, ethischen Prinzipien – und zwar als Gegenbewegung und Akt der Selbstverteidigung.“7
Vor diesem Hintergrund kommt Staub-Bernasconi zu der Definition eines Tripelmandats, das das bisherige berufliche Doppelmandat überwindet. Dieses berufliche Doppelmandat beziehe sich lediglich auf „ein Aushandlungsgeschehen zwischen den normativen Vorgaben oder Leistungsangeboten der Trägerorganisation und den organisations- beziehungsweise bürokratiegerecht formulierten Problemen der Adressat(innen).“ 8
Die Unabhängigkeit der Sozialen Arbeit als Profession soll durch dieses Dritte Mandat gestärkt werden. Dieses Dritte Mandat ermöglicht ihr, sich unabhängig zu positionieren, weil es ihr erstens eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die Soziale Arbeit liefert und ihre Arbeitsweisen und Methoden begründet. Zweitens bietet das Dritte Mandat eine ethische Handlungsgrundlage, die unabhängig von aktuellen Entwicklungen ist und für die Soziale Arbeit grundlegende Gültigkeit entfaltet.9 Drittens schließlich sind es die Menschenrechte, die in das Dritte Mandat einbezogen werden. Auf dieser Handlungsgrundlage ist es der Profession Soziale Arbeit möglich, so Staub-Bernasconi, sich „sowohl von den möglichen Machtinteressen und Zumutungen der Träger, fachfremden Eingriffen anderer Professionen wie der Vereinnahmung durch illegitime Forderungen durch die Adressat(inn)en kritisch zu distanzieren"10.
Methodisches Handeln unter den Bedingungen des Technologiedefizites  

Oft wird von außen erwartet, dass die Soziale Arbeit einem reinen Mittel-Zweck-Schema folgen soll, um dadurch Veränderungen bei den Gefangenen zu bewirken. Doch jeder Praktiker und jede Praktikerin des Vollzuges weiß, dass das so nicht funktioniert, und schon gar nicht gegen den Wunsch und Willen der Gefangenen. Veränderungen treten ein, wenn es am wenigsten erwartet wird, und Bemühungen schlagen fehl, obwohl alles getan wurde, um zu unterstützen. In der Wissenschaft haben Luhmann und Schorr daher diese Betrachtung des Mittel-Zweck-Schemas als ein technologisches Wissenschaftsverständnis, als eine „Wissenschaft von den Kausalverhältnissen“ kritisiert, „der praktische Intentionen zugrunde liegen und nach denen das Handeln sich richten muss, wenn es Erfolg haben will.“11 Es liegt jedoch unmittelbar auf der Hand, dass in der Sozialen Arbeit einem derartigen Wissenschaftsverständnis nicht gefolgt werden kann. Menschen sind keine trivialen Maschinen, die einem Reiz-Reaktions-Schema unterliegen und auf bestimmte äußere Anreize und Impulse (Mittel) gleichförmig reagieren können. Daher kann die Soziale Arbeit eben nicht als ein Zusammenhang von Verfahren bezeichnet werden, die benutzt werden, um Materialien mit vorhersehbaren Wirkungen und erkennbaren Fehlerquellen von einem Zustand in einen anderen umzuformen, wie dies einem naturwissenschaftlich-technologischem Wissenschaftsverständnis entspricht, wo diese Betrachtung durchaus ihre Berechtigung haben mag.12 An dieser – wiederum trivialen – Erkenntnis wird sich jede Diskussion über Standards im Vollzug messen lassen müssen, denn Standardisierung bedeutet eben gerade nicht, menschliches Handeln zu trivialisieren, sondern auch unter den einschränkenden Bedingungen des Vollzugs zu ermöglichen.

Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit lässt daher beabsichtigte Entwicklungsprozesse zwar wahrscheinlicher, aber nicht sicherer werden. Dies gilt selbstverständlich auch unter den besonderen Bedingungen des Strafvollzugs. Deshalb sind Methoden vor allem systemintern von Bedeutung. Damit ist gemeint, dass sie eher der professionellen Selbstkontrolle dienen und darauf ausgerichtet sind, die unbeabsichtigten Nebenwirkungen des methodischen Handelns mit den Gefangenen in den Blick zu nehmen. Sie helfen, das im Vollzug in besonderer Weise zu berücksichtigende Spannungsverhältnis von Hilfeabsicht und Kontrollanforderung zu verstehen. Methodisches Handeln dient dazu, sich über die oft unausgesprochenen Vorannahmen über die Gefangenen, ihre Probleme und das, was für sie gut wäre, zu verständigen.
Aus systemtheoretischer Sicht können daher zwei Bezugspunkte für das so genannte Technologiedefizit identifiziert werden. Der erste Bezugspunkt ist das System Strafvollzug selbst. Auch der Vollzug ist aus dieser Sicht ein System, und Systeme sind ‚operational geschlossen‘ und laufen damit Gefahr, selbstreferentiell auf sich selbst bezogen zu sein. Sie kümmern sich nur um ihre eigenen Zwecke und interessieren sich wenig für das, was außerhalb vor sich geht. Das diese Gefahr für den Strafvollzug als geschlossenem System in besonderer Weise zutrifft, braucht kaum betont zu werden. Geschlossene Systeme sind dann nicht unmittelbar durch Außenreize steuerbar, sondern reagieren nach ihrer systeminternen Relevanzkriterien und reproduzieren sich damit selbst. Diese Erkenntnis, wenn auch in anderen Worten, war die zentrale Ausgangsüberlegung zur Einrichtung der Projektgruppe “Standards der sozialen Arbeit im Berliner Strafvollzug.“
Dieses Problem gilt, aus systemtheoretischer Perspektive, gleichermaßen im Blick auf die Gefangenen und das Personal. Wie bereits ausgeführt, ist es nicht möglich, dass ein ‚personales System‘ (wie der Sozialpädagoge oder die Sozialpädagogin) ein anderes‚ personales System‘ (den Gefangenen oder die Gefangene) sicher von Zustand A zum erwünschten Zustand B umformen kann, denn es handelt sich bei beiden Personen um nicht-triviale Systeme.13 Daher bleibt stets unklar, wie und ob diese beiden Systeme aneinander anschließen können.

Einschränkungen und Möglichkeiten  

 Die bisher gemachten Bemerkungen sollen nicht andeuten, dass es unmöglich ist, unter den Bedingungen einer Totalen Institutionen als Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin methodisch zu handeln. Sie sollen jedoch ausdrücken, dass dieses Handeln nicht im Sinne der Anwendung einer noch so gut konstruierten Technologie stattfinden kann. „Methodisches Handeln ist ja keine lineare, sondern eine eher spiralförmige Abfolge von Handlungen: Man steigt an irgendeiner Stelle in den Prozess ein und geht – je nach Erfordernis – vor und zurück, bis die notwendigen Klärungen und Entscheidungen erfolgt sind.“14 Das konkrete Handeln findet immer in Situationen statt, an denen stets mehrere mitwirken: Die handelnde Fachkraft selbst, die Gefangenen, die Vorgesetzten, der Allgemeine Vollzugsdienst, Angehörige, andere Fachkräfte, evtl. Richter und Richterinnen, Bewährungshelfende und vermutlich noch viele weitere Personen, die die mit der Handlung verbundenen Entscheidungen betreffen. Die Fachkraft ist Teil der Situation und kann nur für ihr eigenes Handeln verantwortlich sein, sie kann nur ihren Teil der Handlung so gelungen wie möglich in Koproduktion gestalten.
Mit dem in der Sozialen Arbeit sehr gebräuchlichen Begriff der Koproduktion ist eine personenbezogene Dienstleistung als eine Handlung gemeint, mit der eine Leistung gleichzeitig produziert und verbraucht wird. „Fachkräfte können ihre Angebote weder ‚lagern‘ noch vorproduzieren, sondern müssen ihre Arbeit mit ihren Adressaten und Adressatinnen erbringen: Beide Seiten müssen zur gleichen Zeit anwesend sein und in eine mehr oder weniger persönliche, vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zueinander treten. Soziale Arbeit erfolgt somit ‚uno actu‘“.15 Dies ist mit der vom Deutschen Verband für Soziale Arbeit (DBSH) gebrauchten Formulierung gemeint, soweit wie möglich mit anstatt für Menschen zu arbeiten.
Die Frage, ob sozialarbeiterisches Handeln im Vollzug möglich ist, stellt sich auch aus einem anderen Grund nicht: faktisch geschieht sie, und was geschieht, kann so oder auch anders, kann besser oder schlechter praktiziert werden. Angestrebt wird selbstverständlich stets ein besseres Praktizieren. Dieses „bessere Praktizieren“ darf sich jedoch nicht, daher die bisherigen Überlegungen, in der Illusion wiegen, dass eine Standardisierung zu einer Vorhersehbarkeit der Vollzüge und der Abläufe im System Strafvollzug führt. Vor diesem Hintergrund werden im folgenden einige Parameter gelingender Sozialer Arbeit unter den Bedingungen des Strafvollzugs benannt, die aus der Zusammenschau der Standardisierungsdebatte auf der einen und der sozialarbeiterischen fachlichen Debatte auf der anderen Seite entstanden sind.

1. Einschränkung: Die Totale Institution 

 

Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen im Berliner Strafvollzug handeln im Bewusstsein darum, dass es sich bei dem Strafvollzug um ein Totales System handelt. Dieser Begriff wird nicht in abwertender Weise gebraucht, sondern als ein analytischer Begriff benutzt, um deutlich zu machen, dass sich in diesem System mit Notwendigkeit zwei unterschiedliche Parallelwelten ausbilden müssen. Auf der einen Seite steht das Personal (die Superordinierten, um einen Begriff von Goffman zu gebrauchen), auf der anderen Seite die Insassen (die Subordinierten). Beide Welten sind prinzipiell voneinander geschieden. Durchlässigkeiten, also die Möglichkeit und Fähigkeit auf beiden Seiten, miteinander in eine gelingende Beziehung einzutreten, sind daher von vornherein drastisch eingeschränkt.
Diese Grundaussage hat weitreichende Folgen für das methodische Handeln der Sozialen Arbeit im Vollzug. Zweifellos schränkt sie das skizzierte methodische Handeln ein, schließt es jedoch nicht aus, soweit daran festgehalten wird, dass die Leistung, auch unter den Bedingungen des Zwanges, so weit als möglich als eine Koproduktion erfolgen muss, wenn sie eine sozialarbeiterische Qualität tragen soll. Dabei bleibt sie stets auf einen konkreten Handlungsvollzug hin orientiert. Diese Handlungen (Hilfen und Einschränkungen, beides ist damit gemeint) können nicht vorab angebbare Entscheidungen sein, sondern müssen in aller Regel jeweils in der Situation entschieden werden, wie bereits dargelegt. Wäre es anders, bedürfte es keiner Fachkraft. Die Fähigkeit der Fachkraft besteht ja gerade darin, Entscheidungen in der Situation zu treffen und zu reflektieren. Das ist der Unterschied: es werden keine Methoden angewandt, jedoch wird methodisch gehandelt in Koproduktion unter dem Einsatz der eigenen Person als Werkzeug.
2. Einschränkung: Der Zwangskontext

 

Mit dieser Einschränkung sind die besonderen Zwangsformen angesprochen, denen die beiden Parallelwelten des Personals und der Insassen unterliegen, und die sich gegenseitig durchmischen. Der Begriff des Zwangs ist hier ebenfalls, wie jener der Totalen Institution, nicht abwertend, sondern analytisch gemeint. Er muss unbedingt mit dem Hinweis versehen werden, dass eine Soziale Arbeit ohne Zwang ohnehin nicht möglich ist, sondern der Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Adressierten stets unterlegt. Zwang muss daher methodisch erfasst werden, um auch im Vollzug so weit wie möglich gelingende Beziehungen auf der persönlichen Ebene herzustellen.
Zu betonen ist deshalb, dass diese Beschreibung Sozialer Arbeit nicht nur auf Tätigkeiten im Vollzug zutrifft – wenn auch hier in besonderer Weise. Doch insgesamt ist Soziale Arbeit ein staatlich regulierter und finanzierter Eingriff in das Leben anderer Menschen und findet daher – aber nicht nur – in so genannten „Zwangskontexten“ statt. Als Zwangskontext werden „alle nicht von den Klient/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der sozialen Arbeit“16 definiert. Zwang bedeutet dann, dass Menschen durch gesetzliche Vorgaben zur Inanspruchnahme Sozialer Arbeit gebracht werden, etwa durch staatliche Eingriffe bei Kindeswohlgefährdung, oder durch das mehr oder weniger massive Drängen von anderen, etwa Freunden und Freundinnen, Nachbarschaft, Sozialen Diensten, der Justiz, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Beispiele verdeutlichen die allumfassende Dimension des Zwangs in der Sozialen Arbeit.
1. Ermöglichung: Die Person als Werkzeug

 

Sämtliche Standards und Schlüsselprozesse, die im Folgenden beschrieben werden, müssen stets auf diese Grundstruktur des Zwangs in Totalen Institutionen bezogen werden bzw. diese Grundstruktur berücksichtigen. Nur wenn diese strukturelle Bestimmung inhaltlich und fachlich in Rechnung gestellt wird, können Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen unter den besonders schwierigen Bedingungen der Arbeit in einer Totalen Institution sozialarbeiterische Standards gewährleisten. Dazu gehört in erster Linie, systematisch Situationen zu schaffen, in denen die Sozialarbeitenden als „Person als Werkzeug“ wirken und einen persönlichen Bezug zu den Insassen auch in dieser Sondersituation gestalten können. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass die eigene Person reflektiert und strategisch eingesetzt wird; gelegentlich wird in diesem Zusammenhang von einer „professionellen Kunst“17 gesprochen.
Diese Situationen entstehen nicht im nebenher, gewissermaßen als Abfallprodukt oder eben auch als besondere Leistung einzelner Mitglieder des Stabes, sondern es sollte durchgehender sozialarbeiterischer Standard sein, auch unter diesen schwierigen Bedingungen Begegnungen zu ermöglichen. Das sollen die Standards so weit wie möglich gewährleisten. Diese Begegnungen sind kein Selbstzweck, und ihre Herstellung kann daher nicht in das Belieben einzelner Fachkräfte gestellt werden, sondern sie müssen insgesamt in den im Folgenden beschriebenen Verfahren und Prozessen berücksichtigt werden.





2. Ermöglichung: Die Wahrung der Würde des Gefangenen als öffentlicher Auftrag 

 

Bei der Betonung der Sozialen Arbeit als einer personenbezogenen Dienstleistung unter Einsatz der Person der Sozialarbeitenden darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich stets um eine Tätigkeit im Auftrag der Öffentlichkeit handelt. Auch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen des Vollzugs sind (in der Regel) beamtete Bedienstete, die einen öffentlichen Auftrag verfolgen. Als solche ist es eine ihrer vornehmsten Aufgaben, die Würde und Integrität aller Bürger und Bürgerinnen im Rahmen ihres staatlichen Handelns zu schützen. Strafgefangene gehören fraglos auch dazu und haben wie alle anderen Anspruch auf die Wahrung ihrer Würde und Integrität als inhaftierte Bürger und Bürgerinnen. Weil das so ist, werden bei den Mindestgrundsätzen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) die „Achtung der Würde und der Wertes, die Gefangenen als Menschen innewohnen“, an vorderste Stelle gerückt.18

Damit wird verdeutlicht, zurückgehend auf Kant, dass ein Mensch niemals nur als Mittel gebraucht werden darf. Ihm kommt ein Zweck an sich zu, eine Würde aus sich selbst heraus als unverwechselbarer Mensch vor jeder Nutzenkalkulation. Dieser Begriff der Menschenwürde ist einer der prominentesten Begriffe in der abendländischen Kultur. Die Menschenrechte sind von eben dieser Menschenwürde abgeleitet. Die Gewährung und Einhaltung die Menschenrechte soll die Menschenwürde sicherstellen. Darum sind die Menschenrechte schließlich zur Grundlage vielfältiger nationaler und internationaler Konzepte Sozialer Arbeit geworden.19
Wohl kaum jemand dürfte der Aussage wiedersprechen, dass sich besonders am Strafvollzug ablesen lässt, wie es um die Menschenwürde in unserer Gesellschaft bestellt ist. Im Anschluss an den Begriff der Menschenrechte sind daher Bemerkungen zum Begriff der Menschenwürde angezeigt, denn im Alltag trifft die Verletzung der Würde durch besondere Formen der Erniedrigung vor allem Arme, Kinder, Alte – und Gefangene. „Eine Gesellschaft kann dann als anständig bezeichnet werden, wenn sie Verbrecher – selbst Schwerverbrecher – bestraft, ohne diese zu entwürdigen. Wie alle anderen Menschen haben auch Straftäter und Straftäterinnen ein Anrecht auf jene Achtung, die dem Menschen allein aufgrund seiner Menschlichkeit gebührt.“20 Angesprochen ist damit die Frage, was eine anständige Gesellschaft auszeichnet. Die Antwort: sie ist dann anständig, wenn ihre Institutionen – also etwa der Strafvollzug – die Menschen nicht demütigen.21 Dabei ist die Achtung der Gefangenen immer ein Nebenprodukt der Handlung, niemals das Ziel. Im sozialarbeiterischen Handeln kommt diese Achtung insbesondere durch Einbezug (siehe den weiter oben erläuterten Begriff der „Koproduktion“) des Gefangenen zum Tragen, der in der Wahrung seiner Würde gestärkt werden muss. Im Gegensatz zur Achtung, die eine Frage der Einstellung zum anderen Menschen ist und daher von selbst entsteht, ist Demütigung niemals ein Nebenprodukt, sondern stets das Ziel der Handlung. Da im Strafvollzug Menschen Zwang unterliegen und von den Entscheidungen anderer Menschen abhängig sind, ist es hier für die Soziale Arbeit in besondere Weise von Bedeutung, auf die Einhaltung der Rechte aller Beteiligten zu achten, denn „was könnte ein gewichtigerer Grund für die Empfindung der Demütigung sein als die Verletzung der eigenen Rechte, vor allem jener Rechte, die unsere Würde schützen sollen?22
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, sozialarbeiterisches Handeln an einer Reihe von Arbeitsregeln zu orientieren. Diese Arbeitsregeln berücksichtigen, dass die Soziale Arbeit im Vollzug eine öffentliche Dienstleistung ist, die nicht nur Angebote, sondern auch Eingriffe gegen den Willen der Betroffenen unter den Zwangsbedingungen des Strafvollzugs vorzunehmen hat. Darum hat die Soziale Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die Wahrung der Menschenwürde der Gefangenen zu richten.

  1. Eingreifendes Handeln (Machtgebrauch) kann im Vollzug unvermeidlich und notwendig sein. Daher muss es sich an strengen Kriterien messen lassen. Standards, wie sie in den Kernprozessen niedergelegt sind, benennen diese Kriterien für jeden Kernprozess.
  2. Die Eingriffe dürfen das auch im Vollzug vorhandene Potential der Selbstbestimmung nicht zerstören. Deshalb sind erniedrigende Eingriffe nicht zulässig, zumal mit diesen Eingriffen gegen die Würde der Gefangenen keine Besserung zu erwarten ist.
  3. Soweit ein eingreifendes Handeln unvermeidlich ist, steht dieses Handeln unter dem Vorbehalt, den Eingriffsteil der Intervention so klein wie möglich zu halten und den Anteil an Koproduktion nach Kräften zu erweitern.
  4. Sinnvoll ist eine Unterscheidung zwischen den Eingriffen, die Situationen ändern sollen, von jenen Eingriffen, die auf das Verhalten und die Wünsche der Gefangenen zielen. Mit dieser Unterscheidung können Unklarheiten und Uneinigkeiten eingegrenzt werden.23

Quellenangaben

 

1 Rauschenbach (2002), S. 843f zit. nach Deller, U. & Brake, R. (2014), Soziale Arbeit, Leverkusen und Berlin, S. 14
https://www.dbsh.de (Aufruf 08.01.2017)
3 Müller, B. (1993). Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg i.B.
4 In diesem Zusammenhang wird auch von der "Komplexleistung Strafvollzug" gesprochen, vgl. Maelicke, B.; Wein, C. (2016). Komplexleistung Resozialisierung. Im Verbund zum Erfolg. Baden-Baden
5 Staub- Bernasconi (2007).Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Bern, Stuttgart, Wien
6 Ebd., S 333
7 Lindenberg, M.; Nauerth, M. (2008). Diakonische Identität auf dem Markt. Sechs Thesen und ein Vorschlag. In: Nauerth, M.; Hußmann, M.; Lindenberg, M. (Hg.). Schon lange unterwegs! Und jetzt wohin? Reflexion zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diakonie anlässlich des Wichernjahres 2008, Bielefeld, S. 281-290 (S.288)
8 Staub-Bernasconi 2007, S. 199
9 Ebd., S. 199 f.
10 Ebd., S. 201
11 Luhmann, N.; Schorr, K.- E.(1982). Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In: Luhmann, Niklas; Schorr, Karl- Eberhardt (Hg.). Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik: Frankfurt/Main: Suhrkamp: 11- 40 (S. 11)
12 Ebd., S.11
13 „Das, was der Erzieher sich vornimmt, ist unmöglich.“ Luhmann, N., Das Kind als Medium der Erziehung. In: Zeitschrift für Pädagogik 37 (1991) 1, S. 19-40 (S.21)
14 Von Spiegel, H. (2013). (5., vollständig überarbeitete Auflage). Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit, München & Basel, S. 11
15 Ebd., S. 252
16 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.). (2007). Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden, S. 1071; auch Kähler, H. (2005). Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich werden kann. München und Basel; ebenfalls Trenczek, T. (2009). Resozialisierung jugendlicher und heranwachsender Straftäter. In Cornel; H.; Kawamura-Reindl, G.; Maelicke, B., Sonnen, B.-R. (Hg.) Handbuch der Resozialisierung (3. Auflage), Baden- Baden, S. 102 – 148 (S. 128 ff)
17 Die aktuelle Debatte geht dabei immer wieder auf die Gründerin der modernen Sozialen Arbeit zurück. Alice Salomon hatte bereits formuliert, dass das die erste Grundlage Sozialer Arbeit die Kunst zu leben sei, denn das Leben ist die höchste aller Künste, ihre zweite Grundlage ist dann die Kunst, zu helfen, ihrer dritte erst ist es, Einfluss zu nehmen und zu führen. Darum heiße Helfen, den Weg frei zu machen für die höchste aller Künste: Das Leben selbst. Vgl. Salomon, A. (2004).(Erstveröffentlichung 1926). Zur Theorie des Helfens. In A. Feustel (Hg.), Frauenemanzipation und Soziale Verantwortung: Ausgewählte Schriften in drei Bänden, Bd. III, Schriften 1919 – 1948. Neuwied/ Kriftel/ Berlin, S. 300-314
18 Generalversammlung der Vereinten Nationen, siebzigste Tagung, Tagungsordnungspunkt 106, A/RES/70/175 vom 8. Januar 2016, S. 4
19 Vgl. Weber, J. (2008). Respekt vor dem Unverwechselbaren. Diakonische Haltung des Staunens jenseits von Nächstenliebe und Expertentum. In: Nauerth, M.; Hußmann, M.; Lindenberg, M. (Hg.). Schon lange unterwegs! Und jetzt: wohin? Reflexion zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diakonie anlässlich des Wichernjahres 2008, Bielefeld, S. 159 – 173 (S. 159-160)
20 Margalit, A. (1997). (am Original 1996). Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Berlin, S. 301
21 Ebd., S. 15
22 Ebd., S.45
23 In Anlehung an Galuske, M. (2007). (7., überarbeitete Auflage). Methoden der Sozialen Arbeit. Eine einführung. Weinheim und München, S. 192-193